Differentialdiagnostik

Der Text ist entnommen aus: Sophinette Becker, Transsexualität - Geschlechtsidentitätsstörung
Erschienen in: Götz Kockott/Eva-Maria Fahrner (Hrsg), Sexualstörungen, Thieme Verlag, 2004, S. 153-201. Transphobe Äusserungen über verdächtig "psychisch unauffällige" Transsexuelle stammen von der "Expertin".

4. Differentialdiagnostik

Der klassische Grundsatz, nach dem sich aus der Diagnose die Indikation zur Behandlung ergibt, trifft bei der Geschlechtsidentitätsstörung (GIS) aus mehreren Gründen nur in relativierter Form zu:

  • In eine transexuelle Symptomatik mündet eine Vielfalt transsexueller Verläufe bzw. ganz unterschiedliche psychische/psychopathologische Entwicklungen.
  • Die spezifische Verschränkung zwischen der Entwicklung der somatischen Behandlungsmöglichkeiten und der Entwicklung der Diagnosen Transsexualität und Geschlechtsidentitätsstörung brachte es mit sich, dass Differentialdiagnosen i. S. von Kontraindikationen zu den somatischen Behandlungen definiert wurden, die als differentialdiagnostische Ausschlusskriterien freilich nach und nach wieder relativiert wurden.
  • Entwicklung und Relativierung der Differentialdiagnosen stützen sich neben publizierten Behandlungsverläufen vor allem auf die katamnestische Untersuchung operierter Transsexueller (vgl. die umfassende und kritische Darstellung der in den Jahren 1961 bis 1991 dokumentierten Katamnesen operierter transsexueller Patienten bei Pfäfflin und Junge 1992). Folglich sind die Ergebnisse dieser Forschung zur Differentialdiagnostik immer retrospektive differentielle Indikationen bzw. Kontraindikationen zu den somatischen Behandlungen.
  • Wenn die Diagnose GIS/Transsexualität nicht (mehr) automatisch eine Indikation zu "geschlechtsumwandelnden" somatischen Maßnahmen darstellt, verliert die Differentialdiagnostik etwas von ihrer bisherigen Brisanz. Diese Entkoppelung hat sich aber noch nicht allgemein durchgesetzt.

Aus den genannten Gründen ist die getrennte Darstellung von Differentialdiagnostik und differentieller Indikation zu den somatischen Behandlungen nur begrenzt möglich. Die weiterführende Diagnostik ist bei der GIS vor allem eine Verlaufsdiagnostik.

4.1. Einzelne Differentialdiagnosen

Die "klassischen" Differentialdiagnosen sind zwar für das Verständnis des Einzelfalls und für die Beurteilung der individuellen Lösungsmöglichkeiten von großer Bedeutung, lassen sich aber nicht i. S. von Ausschlussdiagnosen stellen (vgl. Kap. 1 und 3).

In besonderem Masse gilt dies für den fetischistischen Transvestitismus (siehe 3. 1. 2). Auch die beiden im DSM-IV vorgesehenen Möglichkeiten sind im Einzelfall nicht immer eindeutig voneinander zu unterscheiden bzw. können ineinander übergehen: Manche Männer mit fetischistischem Transvestitismus und Geschlechtsdysphorie weisen im weiteren Verlauf dann doch alle Kriterien der GIS auf.

Auch die konflikthafte Homosexualität hat ihre frühere Bedeutung als wichtigste Differentialdiagnose verloren: Zum einen gibt es fließende Übergänge zwischen Homosexualität und GIS (besonders zwischen FM-TS und männlich identifizierten lesbischen Frauen, aber auch bei manchen MF-TS der Gruppe 1). Zum anderen hat die deutlich gewachsene gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber der Homosexualität offenbar dazu geführt, dass sich das Problem in der klinischen Praxis inzwischen deutlich seltener stellt. Patienten, bei denen sich eine konflikthafte (ich-dystone) Homosexualität als das zentrale Problem hinter der transsexuellen Symptomatik erweist, kommen heutzutage überwiegend aus (meist islamischen) Kulturen, in denen eine extreme (von den Patienten meist internalisierte) Diskriminierung der Homosexualität vorherrscht.

Im Verlauf einer psychotischen Erkrankung, insbesondere einer Schizophrenie, treten häufig (i. d. R. vorübergehend und nur selten als erste bzw. einzige produktive Symptome) Wahnvorstellungen auf, dem anderen Geschlecht anzugehören. Hier kann im Verlauf die Differentialdiagnose eindeutig als Ausschlussdiagnose der GIS gestellt werden. Eine psychotische Erkrankung kann aber auch i. S. einer Komorbidität neben einer GIS bestehen und stellt deshalb (auch im DSM-IV) nicht per se eine Ausschlussdiagnose zur GIS dar (zur inhaltlichen Beziehung zwischen Psychose und GIS vgl. Kraus 1971).

Differentialdiagnostisch schwierig, aber von großer Relevanz ist die Einschätzung präpsychotischer Zustände, da Patienten im Verlauf ihrer transsexuellen Entwicklung psychotisch werden können.

Persönlichkeitsstörungen, insbesondere Borderline-Störungen sind häufig bei Patienten mit GIS zu finden und stellen keine Ausschlussdiagnose dar. (Da die GIS von vielen Autoren generell der Borderline-Störung zugeordnet wird, macht es ohnehin keinen Sinn, sie als Ausschlussdiagnose zu definieren (vgl. Kap. 5.))

Der Ausschluss der Diagnose GIS bei Vorliegen einer Intersexualität (wie im ICD-10 und im DSM-IV) ist unter Experten nach wie vor umstritten (Clement und Senf 1996, Becker et al. 1997, Meyer et al. 2001, Hiort et al. 2001).

Passagere Verunsicherungen der Geschlechtsidentität (z. B. im Rahmen einer Adoleszenzkrise), Leiden am Frau-Sein/Mann-Sein ohne konstantes Gefühl der Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht und Neid auf als mit dem anderen Geschlecht verbunden erlebte kulturelle Vorteile lassen sich dagegen durch Überprüfung der Kriterien A und B des DSM-IV differentialdiagnostisch relativ leicht und eindeutig von der GIS/TS abgrenzen. Allerdings ist zu beachten, dass bei manchen Patienten (z. B. FM-TS der Subgruppe 1 oder MF-TS der Hauptverlaufsform 2) im Erstgespräch nur die Geschlechtsdysphorie (der "Horror" gegenüber dem Geburtsgeschlecht) deutlich wird, während ihr Zugehörigkeitsgefühl zum anderen Geschlecht lediglich wie eine leere Behauptung wirkt. Wenn solche Patienten dann auch noch stark ausgeprägte körperliche Merkmale des Geburtsgeschlechts aufweisen, kann das vorschnell zum Ausschluss der Diagnose GIS/TS führen – und damit häufig zum Abbruch des Kontakts durch den sich zurückgewiesen fühlenden Patienten. Ebenfalls zu beachten ist, dass andere Patienten (z. B. MF-TS der Hauptverlaufsform 1 oder FM-TS der Subgruppe 2) bereits im Erstgespräch im Wunschgeschlecht so überzeugend wirken, dass ihr Leidensdruck (Kriterium C des DSM-IV) zunächst gar nicht deutlich wird. Das kann zu einer vorschnellen Einstufung der Patienten als "psychisch unauffällig" führen.

Download

Sophinette Becker: "Transsexualität - Geschlechtsidentitätsstörung"
64-seitige Arbeit aus psychotherapeutischer Sicht


 

 

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